Die Vorstellung, dass Wohnen ein Menschenrecht ist, rückt in Europa zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen erreichen uns Schlagzeilen von Haushalten, die mehr als 40% ihres Nettoeinkommens für Miete, Nebenkosten oder Zinsen aufbringen müssen.
Ein Belastungsniveau, das langfristig zu Verarmung und sozialer Exklusion führen kann. Laut Eurostat lag die sogenannte Housing cost overburden rate im Jahr 2023 bei 10,6% in Städten und 7% im ländlichen Raum. Mit Spitzenwerten von über 30% in Ländern wie Griechenland oder Dänemark.
Dieser Wohnraumdruck trifft längst nicht nur einkommensschwache Haushalte. Sondern verändert auch gesellschaftliche Dynamiken nachhaltig. In diesem Artikel untersuchen wir Ursachen, Folgen und Perspektiven eines immer spürbareren Problems.
Wohnen mit Grenzen
In vielen europäischen Ländern explodieren seit Jahren die Wohnkosten. Die Gründe sind vielfältig:
- Urbanisierung führt dazu, dass mehr Menschen in Städte ziehen, während ländliche Regionen entvölkert werden.
- Investoren treiben durch spekulativen Wohnbau die Preise in die Höhe.
- Bauflächen sind begrenzt, insbesondere in ökologisch sensiblen oder bereits stark verdichteten Gebieten.
- Inflation, Zinsanstieg und Materialengpässe machen Neubauten teuer oder unwirtschaftlich.
Wird Wohnen zur Belastung?
Wenn man den Zahlen glaubt, dann ja. Denn in Deutschland, Italien, den Niederlanden oder Griechenland beispielsweise steigen die Preise für Mietobjekte und Eigentum kontinuierlich. Zwischen 2015 und 2023 stiegen Immobilienpreise im EU-Durchschnitt um 48%, Mieten um 18 %. In Ländern wie Litauen oder Irland sogar deutlich stärker.
Wie bereits erwähnt, gibt es immer mehr Haushalte, deren Wohnkosten mehr als 40% ihres Einkommens ausmachen. Laut einer Studie des European Economic and Social Committee (EESC) und Eurostat sind besonders Alleinstehende, migrantische Familien und Menschen mit niedrigem Einkommen betroffen. Über ein Drittel dieser Gruppen zeigen überlastete Wohnkosten.
Nicht umsonst empfinden laut EESC-Bericht 2024 fast die Hälfte aller EU-Haushalte Wohnkosten als finanzielle Belastung, besonders sozial schwächere oder ärmere Gruppierungen. Sozialer Wohnraum schrumpft europaweit. Wartelisten dauern in vielen Städten Jahre, teils Jahrzehnte.
Dazu kommt, dass wachsende Städte die Bauflächen zusammenpressen. Zwischen 2020 und 2050 ist in vielen EU-Städten ein Bevölkerungszuwachs von bis zu 35% prognostiziert. Die bauliche Fläche wächst jedoch unverhältnismäßig stärker, oft ohne klare Steuerung oder Planung. Solche Entwicklungen begünstigen Spekulation, steigende Grundstückspreise sowie lange Wege zwischen günstiger Peripherie und den eigentlichen Arbeitsorten der Bewohner.
Zuletzt muss noch erwähnt werden, dass in mehreren osteuropäischen Ländern schon bis zu 45% der Haushalte als überbelegt gelten. Also zu viele Personen auf zu wenig Räume gerechnet. Auch in westeuropäischen Städten ist Enge zusehends Alltag. Mit nachweislich negativen Auswirkungen auf Schlaf, Bewegung und mentale Gesundheit.
Wie Wohnraumdruck den Alltag verändert
Der Wohnraumdruck hat längst sichtbare Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben in Europa. Drei Trends stechen besonders hervor:
- Pendeln als neue Lebensrealität
Wer sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten kann, zieht ins Umland, nimmt dafür aber oft tägliche Pendelzeiten von über einer Stunde in Kauf. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit zeigt, dass die durchschnittliche Pendeldistanz in Ballungsräumen kontinuierlich wächst.
Neben ökologischen Folgen (mehr Autoverkehr, höhere Emissionen) verschärft sich auch die soziale Spaltung. Wer mobil ist, kann noch mithalten. Wer auf Nahversorgung angewiesen ist, gerät ins Abseits.
- Leben auf kleinem Fuß – notgedrungen
Der „Tiny House“-Trend oder das sogenannte Micro-Living wird oft als bewusster Lebensstil vermarktet. Tatsächlich geht es in vielen Fällen aber weniger um Freiwilligkeit als um Notwendigkeit.
In Städten wie London oder Stockholm entstehen Miniappartements mit weniger als 25 m² Fläche. Teilweise für über 1.000 Euro Miete. Studien zeigen, dass dauerhafte Enge zu Stress, Schlafproblemen und sozialem Rückzug führen kann, insbesondere bei Familien oder Alleinerziehenden.
- Neue Wohnformen und Sharing-Konzepte
Gleichzeitig wachsen innovative Ansätze: Mehrgenerationenhäuser, gemeinschaftliches Wohnen, Co-Living-Spaces oder Wohnungstausch-Modelle werden zunehmend erprobt.
Auch digitale Plattformen fördern Wohnraumvermittlung, temporäre Lösungen und flexible Wohnmodelle. Doch der Zugang zu solchen Konzepten ist oft an Bildung, Einkommen oder Mobilitätsbereitschaft geknüpft. Und ersetzt keine strukturellen Lösungen.
Was braucht es für leistbares Wohnen?
Der Wohnraumdruck ist kein vorübergehendes Phänomen. Vielmehr deutet sich eine dauerhafte Herausforderung an, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Antworten verlangt. Ansatzpunkte sind unter anderem:
- Bauen fördern: Vereinfachte Genehmigungsverfahren, Nutzung brachliegender Flächen und Förderung von Sozial- und Gemeindewohnbau.
- Städte dezentral denken: Neue Mobilitätskonzepte, digitale Arbeitsmodelle und stärkere Investitionen in ländliche Regionen könnten Urbanisierung bremsen.
- Wohnen sozial absichern: Mietpreisdeckel, Wohnbeihilfen und steuerliche Anreize für leistbaren Wohnraum sind wichtige Instrumente zur Stabilisierung.
- Gesellschaftliche Debatte fördern: Wohnen darf nicht allein Marktlogik folgen. Als Grundrecht braucht es Raum im politischen Diskurs mit Beteiligung aller Gruppen.
In Österreich etwa zeigt das „Wiener Modell“ – also der systematisch geförderte soziale Wohnbau – wie Wohnraum als Teil öffentlicher Daseinsvorsorge gestaltet werden kann. In vielen anderen Ländern hingegen dominiert noch immer die Vorstellung, Wohnen sei eine rein private Angelegenheit.
Klar ist: Der Wohnraumdruck bleibt erst mal
Der Wohnraumdruck ist mehr als ein ökonomisches Problem. Er ist eine soziale und kulturelle Herausforderung. Wenn Menschen sich ihr Zuhause nicht mehr leisten können, verlieren sie mehr als nur vier Wände.
Sie verlieren Stabilität, Lebensqualität und Teilhabe. Umso wichtiger ist es, dass Wohnen wieder als Gemeingut verstanden wird – und nicht als Luxus.