Die Digitalisierung gilt als Heilsversprechen der Arbeitswelt. Man wird immer effizienter, vernetzter, ortsunabhängig. Digitale Tools und Technologien sollen Prozesse vereinfachen, Zusammenarbeit verbessern und Ressourcen sparen. Doch die Kehrseite dieser Entwicklung zeigt sich immer deutlicher. In Form von digitaler Überforderung.

Immer mehr Menschen fühlen sich im digitalen Alltag getrieben statt unterstützt. Zwischen Slack-Nachrichten, Zoom-Terminen, Miro-Boards und sich ständig ändernden Tools bleibt oft die echte menschliche Konzentration auf der Strecke. Was ursprünglich zur Entlastung gedacht war, kann für manche zur mentalen Dauerbelastung werden. 

Die Illusion permanenter Effizienz

Laut einem HR Report aus dem Jahr 2020 nutzen Mitarbeitende im Durchschnitt 6 verschiedene digitale Tools täglich – Tendenz steigend. Kein Zweifel, digitale Tools haben enorme Vorteile: 

  • Sie ermöglichen Zusammenarbeit über Zeitzonen hinweg
  • Sie reduzieren administrative Aufgaben
  • Sie vereinfachen die Kommunikation in Wort und Schrift

Um nur ein paar dieser Vorteile zu nennen. Doch sie bringen auch neue Herausforderungen mit sich. Vor allem, wenn man nicht weiß, damit umzugehen. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: 

Ein Projektteam verwendet gleichzeitig Slack, Trello, Jira, Google Docs und noch interne Systeme. Das klingt erstmal fortschrittlich, bedeutet aber in der Praxis oft fragmentierte Kommunikation, redundante Aufgaben und ein ständiger Wechsel zwischen Plattformen. Die Folge: mentale Überforderung. 

Das bestätigt auch der DGB-Index Gute Arbeit 2022. Er zeigt, dass 83% der Beschäftigten digitale Anwendungen nutzen, aber über 40% dadurch eine gestiegene Arbeitsbelastung empfinden. Besonders problematisch sind dabei die ständige Erreichbarkeit, unterbrochene Konzentrationsphasen und fehlende Ruhezeiten. 

Die Digitalisierung sorgt für Entscheidungsmüdigkeit

Wenn die digitale Infrastruktur zur Belastung wird, spricht man von „Tool-Overload“. Dahinter steckt meist kein böser Wille, sondern gut gemeinte Digitalisierungsinitiativen. Doch jede neue Anwendung bedeutet auch neue Lernprozesse, neue Arbeitsabläufe und neue Informationskanäle.

Die Konsequenz davon ist oft Entscheidungsmüdigkeit. Ein Zustand, in dem das Gehirn überlastet ist durch die Vielzahl an Reizen, Wahlmöglichkeiten und Aufgaben. Anstatt effizienter zu arbeiten, springt man ständig zwischen Tools, Aufgaben und Themen hin und her. Multitasking wird zur neuen Norm. Und das mit spürbaren Folgen:

  • Konzentrationsprobleme
  • Geringere Arbeitszufriedenheit
  • Höhere Fehlerquote
  • Gefühl permanenter Erreichbarkeit
  • Zunehmende Erschöpfung

In einer Untersuchung des Fraunhofer IAO während der COVID‑19‑Pandemie gaben 46% der Befragten an, durch digitale Kommunikation häufiger gestresst zu sein als vor der Pandemie. 

Wann Digitalisierung hilft und wann sie stört

Digitale Hilfsmittel sind nicht per se schlecht. Vielmehr entscheiden ihr Einsatzbereich und die Häufigkeit darüber, ob sie entlasten oder überfordern. Drei Faktoren spielen hier eine entscheidende Rolle:

  1. Zielgerichtete Nutzung: Wird ein Tool eingeführt, um ein konkretes Problem zu lösen oder einfach, “weil man das jetzt so macht”? 
  2. Integration in bestehende Prozesse: Fügen sich Tools nahtlos in den Arbeitsalltag ein oder erzeugen sie Mehraufwand?
  3. Unterstützung und Schulung: Gibt es klare Regeln zur Nutzung oder herrscht Chaos?

Gerade in größeren Organisationen kommt es in Bezug auf die Digitalisierung oft zu Inseln. Teams nutzen unterschiedliche Systeme, Kommunikationskanäle sind unklar, Schnittstellen fehlen. Das kostet Zeit und Nerven.

Digitale Überforderung erkennen

Nicht jede Art von Stress ist sofort offensichtlich. Digitale Überforderung äußert sich oft subtil, bleibt aber langfristig im Alltag bestehen. Wer über längere Zeit das Gefühl hat, nicht mehr hinterherzukommen, ständig abgelenkt zu sein oder in „Meetings ohne Output“ festzuhängen, sollte innehalten. Typische Warnsignale sind:

  • Häufige Konzentrationsprobleme
  • Unklare Prioritäten durch zu viele parallele Aufgaben
  • Das Bedürfnis, nach Feierabend abzuschalten, es aber nicht können 
  • Gefühl der Sinnentleerung trotz voller To-do-Liste
  • Schlafprobleme, Gereiztheit oder innerer Rückzug

Besonders tückisch: Digitale Überforderung wird oft nicht als solche erkannt, sondern mit Selbstvorwürfen erklärt. Viele glauben, sie seien einfach nicht produktiv genug. Dabei liegt das Problem häufig am System und nicht an der individuellen Leistungsfähigkeit.

Fünf Wege zur digitalen Entschleunigung

Wer im digitalen Alltag bestehen will, braucht Strategien zur Entlastung. Diese sollten nicht technikfeindlich, sondern realistisch und menschlich sein. Einige Ansätze sind:

  • Tool-Diät einführen: Welche Tools werden wirklich benötigt? Welche doppeln sich? Eine regelmäßige Inventur kann Klarheit schaffen.
  • Fokuszeiten blocken: Eine oder zwei Stunden am Tag ohne Meetings oder Chat-Nachrichten können manchmal Wunder für die Konzentration und Kreativität wirken. 
  • Kommunikationsregeln etablieren: Muss jede Info sofort geteilt werden? Sind Slack, Microsoft Teams und Co. das richtige Medium für Feedback oder kann man manches auch auf persönlicher Ebene klären? Ein klarer Rahmen hilft.
  • Digitales Onboarding vereinfachen: Neue Tools sollten mit klaren Schulungen eingeführt werden. Sie sollten erst in den laufenden Betrieb übernommen werden, wenn alle Beteiligten damit zurechtkommen. 

Viele Unternehmen setzen inzwischen auf sogenannte „Digital Wellbeing“-Programme. Diese fördern Achtsamkeit im Umgang mit Technologie und machen digitale Balance zum Teil der Unternehmenskultur.

Die Digitalisierung braucht mehr Menschlichkeit

Digitalisierung wird nicht verschwinden. Und das ist auch gut so. Aber ihre Umsetzung muss sich am Menschen orientieren. Auf keinen Fall sollte es umgekehrt sein. Wer glaubt, dass mehr Tools automatisch mehr Produktivität bringen, übersieht die psychischen und sozialen Nebeneffekte.

Die Herausforderung besteht darin, Qualität vor Quantität zu stellen. Auch oder besonders bei digitalen Systemen. Weniger ist manchmal mehr. Denn digitale Überforderung ist kein individuelles Versagen, sondern ein systemisches Problem.

Und genau deshalb braucht es strukturelle Lösungen auf Ebene der Unternehmen, der Organisationen und letztlich der Gesellschaft. Nur so kann digitale Effizienz wirklich wirksam und gesund bleiben.

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